Gesundheit – seelisch wie körperlich – entsteht durch das Gefühl von Kohärenz, das der Gesundheitsforscher Aaron Antonovsky geprägt hat. Er beschreibt dieses Gefühl als die Fähigkeit, die Welt um uns herum als verständlich, handhabbar und sinnhaft zu erleben. Diese drei Parameter – Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit – sind entscheidend, um ein inneres Gleichgewicht und ein positives Lebensgefühl zu entwickeln.

Wir leben jedoch in einer Zeit zunehmender Komplexität. Das gilt nicht nur für die Gesellschaft insgesamt, sondern auch speziell für Branchen wie die Bauwirtschaft, in der von Anfang an in umfassenden Zusammenhängen gedacht werden muss. Ob nachhaltige oder konventionelle Ansätze – die wachsende Bürokratie, der Bedarf an interdisziplinärem Denken und die Vielfalt der Herausforderungen machen es immer schwerer, den Überblick zu behalten. Das Gefühl der Überforderung wächst, und viele Menschen fragen sich zunehmend, ob das, was sie tun, überhaupt noch Sinn ergibt.

Diese Unsicherheit betrifft nicht nur Einzelne, sondern wird auch in gesellschaftlichen Debatten spürbar. Die Sinnfrage, die Orientierungslosigkeit und die Überforderung können extreme Reaktionen auslösen: Schwarz-Weiß-Denken, starke Polarisierungen oder Sprünge zwischen übertriebenem Optimismus und tiefem Pessimismus. Solche Extremzustände lassen sich nicht nur in gesellschaftlichen Krisen beobachten, sondern auch in psychologischen Prozessen, wie sie in der therapeutischen Arbeit mit Jugendlichen deutlich werden.

In der von mir geleiteten Jugendhilfeeinrichtung arbeiten wir mit traumatisierten Jugendlichen, die oft von extremen Emotionen beherrscht werden: Sie idealisieren Personen oder Situationen, um sie kurz darauf zu dämonisieren. Eine bewährte Therapieform, die sogenannte dialektisch-behaviorale Therapie, hilft ihnen, diese Extreme zu integrieren. Es geht darum, ein „Sowohl-als-auch“-Denken zu entwickeln: Schwarz und Weiß wahrzunehmen und dazwischen Grautöne zu finden. Das bedeutet, sowohl das Schwere als auch das Gute im Alltag zu akzeptieren – gleichzeitig. Dies schafft Stabilität und eine neue Art von Kohärenz.

Diese Herangehensweise lässt sich auch auf die ökologische und gesellschaftliche Ebene übertragen. Die Herausforderungen, vor denen wir stehen – etwa die gigantischen Mengen an Müll oder die Tatsache, dass die Bauwirtschaft einen erheblichen Anteil am weltweiten CO₂-Ausstoß hat – sind erdrückend. Dazu kommt, dass die menschlich geschaffene technische Masse im Jahr 2020 erstmals die Biomasse auf diesem Planeten übertroffen hat. Das bedeutet: Wir haben mehr künstliche Materialien produziert, als natürliche Lebewesen auf der Erde existieren.

Diese Fakten sind beunruhigend, und doch bieten sie auch Chancen. Die Bauwirtschaft, als einer der größten Materialverbraucher und Emittenten, hat ein enormes Potenzial, durch Kreislaufprozesse und nachhaltige Innovationen Veränderung zu bewirken. Wie können wir also den Übergang von Extremen – zwischen Pessimismus und blindem Optimismus – zu einer ausgewogenen Perspektive schaffen, die Handlungsfähigkeit fördert?

Indem wir uns nicht von der Komplexität überwältigen lassen, sondern Schritt für Schritt kohärente Lösungen entwickeln, können wir die Baubranche und andere Bereiche in Richtung einer nachhaltigeren Zukunft lenken. Es geht darum, den Prozess als „schwierig und gut – gleichzeitig“ zu akzeptieren.

Herausforderungen und psychologische

Widerstände auf dem Weg zur Nachhaltigkeit

Die Prozesse, die unsere Welt derzeit prägen, sind oft alles andere als nachhaltig. Sie basieren nicht auf einem Kreislaufbewusstsein, sondern führen dazu, dass wir immer schneller an die Grenzen der planetaren Belastbarkeit stoßen. Der Earth Overshoot Day in Deutschland fiel 2024 bereits auf den Mai, weltweit auf den August. Rund 40 % dieser Überlastung gehen auf die Bauwirtschaft zurück. Diese Fakten sind bekannt, und doch stellt sich die Frage: Warum handeln wir nicht entschiedener?

Das Problem liegt nicht allein bei der Bauwirtschaft oder einzelnen Branchen. Es betrifft uns alle. Auch meine Branche – die Medizin und Psychologie – ist nicht nachhaltiger. Wir verwenden andere Materialien, aber im Vergleich leisten wir keinen besseren Beitrag zur Nachhaltigkeit. Es geht also nicht darum, Schuldzuweisungen zu machen, sondern um das gemeinsame Verständnis, dass nachhaltiges Handeln unsere aller Verantwortung ist.

Warum tun wir uns so schwer?

Seit den 1990er-Jahren wissen wir durch Denker wie Michael Braungart, dass systemische Ansätze wie Kreislaufwirtschaft notwendig sind. Und dennoch hat sich nur zögerlich etwas verändert. Erst jetzt beginnen wir, Fortschritte zu sehen. Das wirft die Frage auf: Warum gibt es so viele Widerstände?

Es geht darum, die psychologischen Prozesse besser zu verstehen, die diesen Widerständen zugrunde liegen. Oft sind diese Widerstände unbewusst, während auf der bewussten Ebene eine große Bereitschaft für Nachhaltigkeit vorhanden ist. Umfragen zeigen regelmäßig, dass 70–80 % der Menschen mehr für das Klima tun wollen. Aber wenn es konkret wird – bei der Umsetzung im Alltag – klemmt es.

Unbewusste Prozesse als Hindernisse

Diese Blockaden liegen in unbewussten Mechanismen, die unser Verhalten steuern. Ein Großteil dessen, was in der menschlichen Psyche geschieht, bleibt uns verborgen, obwohl es unser Handeln entscheidend beeinflusst. Ein anschauliches Beispiel liefert die Architektur: Von dem, was geplant wird, ist ein großer Teil unsichtbar – Fundamente, Versorgungsstrukturen oder Tragwerke. Ähnlich verhält es sich mit der Psyche: Viele Prozesse laufen „unter der Oberfläche“ ab und prägen dennoch unser Verhalten.

Ein zentraler Punkt ist, dass wir Menschen verschiedene innere Anteile oder Zustände (States) in uns tragen, die situationsabhängig auftreten. Diese Anteile sind uns vertraut: Wir verhalten uns anders im Stadion, in der Kirche, mit unseren Kindern oder bei der Arbeit. Diese Wechsel zwischen den inneren Zuständen sind meist unproblematisch, werden aber deutlich, wenn wir unter Stress geraten.

Stresszustände und ihre Auswirkungen

Unter Druck – etwa in einer Prüfung oder schwierigen Lebenssituation – erleben wir oft einen inneren Zustand, der uns klein, verletzlich oder durchscheinend fühlen lässt. Dieser Zustand unterscheidet sich deutlich von der „gesunden erwachsenen Seite“, die wir normalerweise im Alltag zeigen. Solche Erfahrungen kennen wir alle. Sie zeigen, wie unsere unbewussten Anteile unter Stress aktiv werden und unser Handeln beeinflussen können.

Der prägende State der westlichen Gesellschaft

Ein bestimmter innerer Zustand hat unsere westliche Gesellschaft in den letzten 300 bis 500 Jahren maßgeblich geprägt. Dieser Zustand, der stark auf Kontrolle, Rationalität und Fortschritt ausgerichtet ist, hat uns ermöglicht, große technologische und wissenschaftliche Fortschritte zu machen. Doch er bringt auch eine Einseitigkeit mit sich: die Tendenz, die Verbindung zur Natur und zu Kreislaufprozessen zu verlieren.

Um wirklich nachhaltig zu handeln, müssen wir diese psychologischen Muster erkennen und verändern. Es geht darum, Raum für neue Zustände und Denkweisen zu schaffen, die kreative Lösungen ermöglichen und uns helfen, die Blockaden zu überwinden, die bisher nachhaltiges Handeln behindern. Nur so können wir die Kreislaufwirtschaft und andere transformative Ansätze in den Mittelpunkt unseres Handelns rücken.

Das geprägte Zeitverständnis der Moderne und seine

Herausforderungen für die Nachhaltigkeit

Unser heutiges Welt- und Zeitverständnis ist das Ergebnis von Entwicklungen, die tief in den letzten 300 bis 500 Jahren wurzeln – besonders seit der Renaissance, der Industrialisierung und den großen Entdeckungen. Mit der sogenannten „Entdeckung“ Amerikas und anderer Kontinente – obwohl diese natürlich längst bewohnt waren – entstand ein neues Empfinden: Die Welt erschien plötzlich riesig, voller Raum und Ressourcen, die es zu erobern und zu nutzen galt. Dieses Denken löste das mittelalterliche Weltbild ab, das geprägt war von festen Hierarchien: Gott, Teufel, Papst, Kaiser, Herzog. Plötzlich wurde klar, dass diese Ordnung nicht „naturgegeben“ war, sondern auch Illusion sein konnte. Stattdessen entstand das Selbstverständnis des modernen Menschen – frei, selbstbestimmt und unabhängig.

Das lineare Zeitverständnis der Moderne

Mit diesem modernen Weltbild kam auch ein neues Zeitverständnis. Zeit wurde zunehmend als linear empfunden: Es gibt einen Anfang (den Urknall oder die Evolution) und eine stetige Entwicklung, die sich immer weiter fortsetzt – idealerweise in Richtung Fortschritt, Harmonie und Wachstum. Dieses Denken, das die Moderne so prägt, ist stark technikorientiert: Es geht davon aus, dass wir durch immer neue Erfindungen die Welt verbessern, unser Leben bequemer machen und ein unendliches Wachstum sicherstellen können.

Diese Sichtweise beeinflusst nicht nur unsere Technologien, sondern auch unsere ästhetischen und gesellschaftlichen Entscheidungen. In der Architektur des 20. Jahrhunderts beispielsweise zeigt sich dieses Denken in der Art, wie Städte geplant wurden: funktional, modern, mit klaren Linien. In der Beziehung zur Natur zeigt es sich im Wunsch, Natur zu gestalten und zu kontrollieren – Parks, die als Kunstwerke angelegt werden, oder urbane Räume, in denen die Natur dekorativ integriert wird.

Die Schattenseiten dieses Denkens

Dieses moderne Selbstverständnis hat jedoch Schwierigkeiten, Nachhaltigkeit zu begreifen. Es ist darauf ausgerichtet, immer weiter Neues zu schaffen, anstatt Bestehendes zu erhalten oder in Kreisläufen zu denken. Müll und Verschwendung werden dabei häufig ausgeblendet oder delegiert – sei es durch Exporte oder durch das Vertrauen, dass die Technik schon Lösungen finden wird. Das Problem mit diesem Denken: Es ist auf Wachstum und Fortschritt fixiert und hat keinen Bezug zu Kreisläufen oder zum Erhalt von Ressourcen.

Die magisch-mythischen Anteile in uns

Trotz der Dominanz dieses modernen Selbstverständnisses tragen wir in uns auch Relikte viel älterer Denk- und Fühlweisen. Diese „magisch-mythischen“ Seiten sind Überreste aus der Zeit der Jäger und Sammler, als Menschen tief in der Natur verwurzelt waren. Sie zeigen sich beispielsweise in der Freude von Kindern, wenn sie in der Natur spielen – in Sträuchern klettern, imaginäre Welten schaffen und von dieser Umgebung verzaubert sind. Viele von uns kennen dieses Erleben aus der eigenen Kindheit, vielleicht sogar noch als Erwachsene: das Gefühl, dass die Natur lebendig ist, uns umhüllt und mit uns kommuniziert.

Ein Weg zu neuer Balance

Dieses mythische Erleben steht im starken Kontrast zur rationalen, linearen Weltsicht der Moderne. Doch gerade hier liegt eine Chance: Indem wir uns an diese älteren, naturverbundenen Anteile erinnern und sie integrieren, können wir eine neue Perspektive auf Nachhaltigkeit entwickeln. Nachhaltigkeit erfordert ein anderes Zeit- und Selbstverständnis – eines, das nicht nur auf Wachstum und Fortschritt abzielt, sondern auch Kreisläufe, Erhalt und Balance wertschätzt.

Wenn wir lernen, beide Seiten – das moderne, lineare Denken und das magisch-mythische Empfinden – in uns zu verbinden, können wir nicht nur die technischen, sondern auch die psychologischen Voraussetzungen schaffen, um den Herausforderungen der Nachhaltigkeit gerecht zu werden. Es geht darum, ein Bewusstsein zu entwickeln, das die Ressourcen der Vergangenheit mit den Anforderungen der Zukunft vereint.

Die verborgene Seite in uns:

Resonanz mit Natur und Kreisläufen

Wenn wir eine Bergtour machen, am Meer stehen oder einfach in der Natur sind, können wir plötzlich eine tiefere Verbindung spüren. Wir fühlen uns offen, resonant und eingebunden in die Rhythmen der Umgebung. Dieses Erleben stammt nicht aus unserem modernen Selbst, das in den geschäftigen Straßen von New York aufgeht, sondern aus einem magisch-mythischen, ökologischen Selbst, das tief in uns verwurzelt ist.

Dieses Selbst war vor 20.000 oder 50.000 Jahren vollständig eingebettet in die natürlichen Rhythmen der Erde und des Kosmos. Es verstand die Zyklen der Natur, das Kommen und Gehen der Jahreszeiten, und es war gewohnt, jede Ressource vollständig und bis zum letzten Rest zu nutzen. Für dieses Selbst gibt es keinen „Abfall“ – alles war Teil eines Kreislaufs, belebt und sinnvoll integriert.

Das zirkuläre Zeitverständnis des ökologischen Selbst

Im Gegensatz zum linearen Zeitverständnis der Moderne, das auf Fortschritt und Wachstum abzielt, lebt dieses ökologisch-mythische Selbst in einem zirkulären Zeitverständnis. Es fühlt sich in Resonanz mit der Natur, erkennt ihre Beseeltheit und akzeptiert die Kreisläufe des Lebens. Doch in der modernen Welt ist dieses Selbst stark verdrängt. Es ist in modernen Strukturen, Städten und Systemen „verloren gegangen“.

Diese Verdrängung führt zu Gefühlen von Trauer, Irritation und manchmal auch Wut, weil dieses mythische Selbst erkennt, wie weit wir uns von natürlichen Kreisläufen entfernt haben. In unserer Brust tragen wir gewissermaßen zwei Seelen: das moderne, rationale Selbst, das auf Wachstum und Effizienz fokussiert ist, und das mythische Selbst, das Kreisläufe und Resonanz versteht. Für viele von uns dominiert das moderne Selbst, was zu inneren Konflikten führt.

Innere Konflikte und ihre Auswirkungen

Dieser Konflikt zwischen unseren inneren Anteilen erzeugt Druck. Und wenn Menschen Druck empfinden, neigen sie zu Abwehrstrategien, um unangenehme Gefühle zu vermeiden. Diese Strategien können sich in verschiedenen Formen zeigen:

Verharmlosung oder Verleugnung:

Die Probleme werden kleiner geredet oder ignoriert.

Projektion:

Verantwortung wird auf andere abgeschoben.

Ambivalenz:

Man unterstützt nachhaltige Politik oberflächlich,

aber scheut konkrete Maßnahmen im Alltag.

Ein zentraler Punkt in dieser Debatte ist auch unser Begriff von „Abfall“. Abfall existiert nur im Denken des modernen Selbst. Das magisch-mythische Selbst kennt keinen Abfall – für dieses Selbst hat alles eine Funktion und einen Wert.

Um diesen inneren Konflikt zu lösen, braucht es Achtsamkeit. Dieses Konzept, das mittlerweile in der modernen Psychotherapie weit verbreitet ist, ist mehr als ein Lifestyle-Trend. Es ist eine tiefe, fast spirituelle Praxis, die uns lehrt, uns selbst nüchtern und ohne Bewertung wahrzunehmen.

Achtsamkeit bedeutet, dass wir eine innere Instanz entwickeln, die wie ein Ingenieur auf uns blickt: neutral, neugierig, verständnisvoll. Diese Instanz kann wahrnehmen, was im Hier und Jetzt wirklich da ist – unsere Konflikte, unsere Ängste und auch unsere Ressourcen. Mit dieser inneren Klarheit können wir beginnen, bewusster zu handeln und unsere Entscheidungen im Einklang mit Kreisläufen und Nachhaltigkeit zu treffen.

Ein neues Verständnis von Kreislaufwirtschaft

Die Praxis der Achtsamkeit kann uns helfen, das mythisch-ökologische Selbst in uns wieder zu entdecken und mit dem modernen Selbst in Einklang zu bringen. So können wir Kreislaufwirtschaft nicht nur technisch, sondern auch emotional und kulturell verstehen. Der Schlüssel liegt darin, uns selbst und unsere Umgebung mit neuen Augen zu sehen – als Teil eines großen, lebendigen Kreislaufs, in dem alles miteinander verbunden ist.

Die Resonanz mit der Natur, die wir in besonderen Momenten erleben, zeigt uns, dass dieses Wissen in uns noch vorhanden ist. Die Herausforderung besteht darin, es wieder stärker in unser alltägliches Handeln und Denken zu integrieren. Denn nur so können wir echte Nachhaltigkeit schaffen.

Das Konzept von Abfall, wie wir es heute verstehen, existiert nur im Denken des modernen Selbst. Für das magisch-mythische, ökologische Selbst gibt es keinen Abfall. In diesem Verständnis ist alles Teil eines Kreislaufs, in dem Material immer wieder verwendet, transformiert und integriert wird – „Material matters“, könnte man sagen.

Vielleicht ist das ein Ansatzpunkt für unsere weitere Diskussion: Brauchen wir nicht einen völlig neuen Begriff für das, was wir heute Abfall nennen? Etwas, das besser beschreibt, wie Ressourcen im Kreislauf gehalten und weiterentwickelt werden können? Ein Begriff, der den Wert von Material anerkennt, statt es als „nutzlos“ oder „verbraucht“ zu stigmatisieren.

Mit diesem Gedanken würde ich die Diskussion an Sie übergeben und freue mich auf Ihre Perspektiven und Impulse.

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