Einer der ältesten Möbelhersteller der Welt, mit einer Vielzahl von Design-Ikonen, sitzt im hessischen Frankenberg. Wer von Klassikern spricht, der kommt um Thonet nicht herum. Wir wollten wissen, woher dieses Alleinstellungsmerkmal kommt und sprachen mit Creative Director und Geschäftsführer Norbert Ruf.
Herr Ruf, ein Blick in Ihr umfangreiches Portfolio offenbart eine beeindruckende Sammlung von Klassikern, deren Design durch ihre Klarheit und Zeitlosigkeit besticht. Was, würden Sie sagen, ist das Geheimnis, das einen Stuhl zur Design-Ikone werden lässt?
Es ist ein Thema, das nicht nur in professionellen Kreisen, sondern auch in vielen persönlichen Gesprächen immer wieder aufkommt: Wie ist es möglich, dass bestimmte Stühle scheinbar mühelos durch die Epochen gleiten? Die Antwort liegt darin, dass man keine Klassiker erzwingen kann. Sie entstehen und werden im Laufe der Zeit entdeckt. Wenn man die Entwicklung der unzähligen Stahlrohrmöbel im letzten Jahrhundert nachvollzieht, ist erstaunlich, dass nur wenige dieser Entwürfe den begehrten Status eines Klassikers erreicht haben. Ein entscheidender Faktor dafür ist ihre einfache und direkt verständliche Struktur. Bedeutende Architekten wie Mart Stam, Marcel Breuer und Mies van der Rohe haben mit ihrer zeitlosen Bauhaus-Herangehensweise entscheidend dazu beigetragen. Aber auch unsere fortwährende Leidenschaft, Produkte von höchster Qualität und Langlebigkeit zu erschaffen, hat eine gewisse Rolle gespielt. Schliesslich setzen wir uns nach wie vor aktiv mit der Entwicklung neuer Produkte auseinander und verstehen uns nicht als Museum.
Könnte auch der Produktionsprozess die Entwicklung eines Design-Klassikers beeinflussen?
Ja, durchaus. Durch die Auseinandersetzung mit dem Fertigungsprozess können Produkte entstehen, deren Wert über die Zeit hinweg durch Wiederverwendbarkeit steigt. Die Anwendung lösbarer Verbindungstechniken spielt dabei eine große Rolle, da sie Effizienz und Nachhaltigkeit fördert, indem Teile ausgetauscht und Reparaturen durchgeführt werden können. Hier bei Thonet haben wir eine spezielle Abteilung, die sich mit der nachhaltigen Pflege und Wiederaufarbeitung unserer Produkte beschäftigt. So können unsere Kunden ihre Möbel über einen langen Zeitraum hinweg erhalten, was ja auch ein typisches Merkmal von Klassikern ist.
Gibt es eine bestimmte Philosophie oder Formel, die Sie bei der Weiterentwicklung von Thonet-Produkten verfolgen?
Eine feste Formel gibt es natürlich nicht, ein zentrales Element aller Thonet-Produkte ist allerdings ihre strukturelle Signifikanz. Diese ermöglicht es, die Oberflächenmaterialien und Farbgestaltungen über die Zeit hinweg anzupassen, ohne die grundlegende Essenz des Produktes zu beeinträchtigen. Wir legen Wert auf eine behutsame Aktualisierung unserer Produkte, um sie zeitgemäß zu halten.
„Die Sehnsucht nach Echtheit und einer Entschleunigung des Lebens weist darauf hin, dass trotz technologischer Fortschritte das Bedürfnis nach einer Verbindung zur Natur und zu echten Materialien bestehen bleibt. Dieser Zyklus der Innovation gefolgt von einer Rückkehr zu traditionellen Werten scheint ein wiederkehrendes Muster in der Geschichte von Design und Technologie zu sein.“
Inwieweit beeinflusst die Zusammenarbeit mit Architekten und Designern weiterhin die Produktentwicklung bei Thonet? Ist diese Kooperation ein wesentlicher Bestandteil Ihrer Unternehmensstrategie und wie spiegelt sich dies in Ihren Produktlinien wider?
Kollaboration und Austausch sind für uns selbstverständlich und haben schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Besonders wenn es darum geht, unsere Klassiker in die Moderne zu übersetzen, setzen wir gerne auf den Dialog mit Kreativen. Diese bringen frische Ideen ein, vor allem im Bereich der Material- und Oberflächengestaltung. Ein respektvoller Umgang mit der Geschichte und den Werten von Thonet ist für uns natürlich dabei unerlässlich. Die 2018 erfolgreich eingeführte Stuhlserie 118 ist ein Beispiel für eine solche Kooperation. Sie nimmt Bezug auf den klassischen Thonet-Bugholzstuhl Modell 214 und ist gleichzeitig ein ganz neuer Entwurf. Dieses universelle Programm, gestaltet vom Designer Sebastian Herkner, zeichnet sich durch Bugholz-Sitzrahmen aus, durch Sitzflächen, die in traditioneller Handarbeit mit Rohrgeflecht versehen werden. Mittlerweile wurde diese Reihe nicht nur durch Barhocker, sondern auch durch einen Lounge-Sessel sowie Anfang 2024 um einen Stuhl im Fine-Dining-Segment erweitert.
Ist es nicht so, dass ein auf Langlebigkeit ausgerichtetes Produkt die Essenz von Nachhaltigkeit darstellt und einen ganz besonderen Wert hat?
Absolut und Nachhaltigkeit praktizierte Thonet lange bevor es überhaupt einen Namen dafür gab. Die schlanken Formen der Bugholzmöbel von Michael Thonet sind nicht nur aus ästhetischer Sicht bemerkenswert, sondern auch Ausdruck eines tiefen Verständnisses für Ressourceneffizienz und Funktionalität. Diese Prinzipien waren bahnbrechend und haben die charakteristische Designphilosophie von Thonet mitgeprägt, die auch heute noch für uns richtungsweisend ist. Unsere Bestrebungen, Material effizient einzusetzen, waren damals wie heute von dem Wunsch getrieben, unsere natürlichen Ressourcen zu schonen und wertzuschätzen.
In welchem Maße ist die Kaffeehauskultur noch immer ein Teil des Thonet-Erbes?
Bugholzstühle wie der 214 oder 218, die ursprünglich für Kaffeehäuser entworfen wurden, sind ein wesentlicher Bestandteil unserer Geschichte und verkörpern in gewisser Weise die Essenz der Marke Thonet. Die Kaffeehauskultur, in der Menschen sich treffen und gemeinsam Zeit verbringen, ist tief in unserer DNA verwurzelt. Unser Ziel ist es, mit unseren Produkten überall dort präsent zu sein, wo Menschen zusammenkommen – sei es in der Küche, am Esstisch, in Erlebnisräumen wie Theatern oder in Büros, wo kollaborative Strukturen und Konferenzbereiche zunehmend an Bedeutung gewinnen. Der Wiener Architekt Gregor Eichinger prägte den Satz: „Büros sind die neuen Kaffeehäuser“. Diese Perspektive auf die sich wandelnde Arbeitswelt eröffnet uns neue Möglichkeiten, unsere Möbelstücke so zu gestalten, dass sie nicht nur funktional und ergonomisch sind, sondern auch das Wohlbefinden, die Kommunikation und die Produktivität der Menschen fördern.
Sie haben für Ihr Engagement im Bereich Design und Nachhaltigkeit einen Preis erhalten. Was hat es mit dieser Auszeichnung auf sich?
Ja, das war erfreulich. Im Jahr 2021 haben wir den Deutschen Nachhaltigkeitspreis für Design erhalten, eine Anerkennung, die uns sehr am Herzen liegt. Besonders geehrt wurde unser Bugholzstuhl 214, einer der ersten Klassiker unseres Hauses. Dieser Stuhl, der sich seit über 160 Jahren im Markt behauptet, symbolisiert das nachhaltige Potenzial, das in einem durchdachten Design- und Produktionskonzept liegt. Es erfüllt uns mit großer Freude, dass unsere Klassiker sich so nahtlos in moderne Architektur- und Innenarchitekturkonzepte einfügen lassen. Diese Auszeichnung bestärkt uns darin, weiterhin in den Fußstapfen von Michael Thonet zu wandeln und mit Respekt vor unserer Tradition neue Wege zu beschreiten.
Wie bringen Sie traditionelle Handwerkskunst mit industrieller Produktion in Einklang?
Obwohl unsere Produktion hochindustriell ist, legen wir großen Wert auf die Detailarbeit und das handwerkliche Können unserer Mitarbeiter. Dieses Zusammenspiel von Handarbeit und maschineller Fertigung ist entscheidend für die Qualität und Einzigartigkeit unserer Produkte. Unsere Mitarbeiter sind Spezialisten, die ihre Fähigkeiten und ihr Wissen in jeden Schritt des Herstellungsprozesses einbringen – sei es beim Biegen und Schleifen des Holzes für unsere Bugholz-Ikonen oder beim Einbringen des Rohrgeflechts für unseren Klassiker S 32. Diese Kombination aus traditionellem Handwerk und moderner Fertigung ist ein Eckpfeiler unserer Philosophie und spiegelt sich in jedem Thonet-Produkt wider. Wir haben regelmäßig Besucher in unseren Werkstätten, die so hautnah erleben können, wie viel Herzblut und Leidenschaft in die Herstellung jedes einzelnen unserer Möbelstücke fließt.
Und es gibt auch ein Museum direkt nebenan, das ihre 200-jährige Geschichte zeigt.
Ja, wir haben ein Museum direkt neben unserer Produktionsstätte, das 1989 eröffnet wurde. Auf 700 Quadratmetern zeigt es die facettenreiche über 200-jährige Geschichte unseres Unternehmens. Von Möbelstücken des Jugendstils über das Bauhaus bis hin zu den Designs der 50er-, 60er- und 70er-Jahre – das Museum bietet einen umfassenden Einblick in unser reiches Erbe. Der Eintritt ist frei, und wir laden Besucher herzlich ein, von Montag bis Freitag zwischen 10.00 und 16.00 Uhr vorbeizukommen und sich inspirieren zu lassen.
Welche Pläne hat Thonet für die Zukunft?
Wir blicken optimistisch in die Zukunft und haben ambitionierte Pläne. Ein zentrales Anliegen ist es, den Erfolg unseres bestehenden Portfolios auf neue Einsatzbereiche auszuweiten und dabei neue Generationen von Thonet-Liebhabern anzusprechen. Dabei ist es uns wichtig, unser Portfolio behutsam zu erweitern und gleichzeitig unsere Klassiker mit der gebührenden Wertschätzung und Qualität in die Zukunft zu führen.
Norbert Ruf
Geschäftsführer und
Creative Director bei Thonet
Ein Besuch bei Thonet in Frankenberg lohnt sich immer: Der Eintritt des Museums ist frei, von Montag bis Freitag zwischen 10.00 und 16.00 Uhr. Auf 700 Quadratmetern zeigt es die facettenreiche über 200-jährige Geschichte des Unternehmens. Von Möbelstücken des Jugendstils über das Bauhaus bis hin zu den Designs der 50er, 60er und 70er Jahre. Neben dem Museum befinden sich ebenfalls Showroom und der Outlet Store.