top of page

UTA JUGERT

Ästhetik & Resilienz




Seit 2022 ist Uta Jugert im Vorstand der Luisenstadt eG. Ihre Schwerpunkte liegen auf den Bereichen Kommunikation, Organisationsentwicklung sowie Zukunftsthemen. 21 Häuser im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg werden von der 1986 gegründeten Grundstückgenossenschaft verwaltet. Die Luisenstadt eG legt Wert auf sozial verträgliche Mieten und die gewerbliche Nutzung durch soziale, kulturelle oder nachbarschaftliche Räume. Uta Jugert zeigt, wie eine kollektive Lebensweise soziale Ressourcen freisetzen kann.



Seit 2005 wohne ich im „Bauhof“, einem ehemals besetzten Haus in Berlin-Kreuzberg. Zur Zeit leben hier 36 Erwachsene und 6 Kinder. Bevor ich hier einzog, hatte ich mich nie mit gemeinschaftsorientierten Wohnformen beschäftigt. Die Mischung aus privaten Wohneinheiten, Gemeinschaftsflächen und Gewerbe kann man als Co-Housing im besten Sinne bezeichnen. Neben der notwendigen Instandhaltung und Modernisierung des Hauses, der Gestaltung und Nutzung gemeinschaftlicher Flächen und einer organisierten Grundversorgung mit gesunden Lebensmitteln finden beispielsweise auch gemeinsame Essen, Gemeinschaftsaktionen und die Ausrichtung eines jährlichen Hoffestes für Nachbarn und Freunde statt. Wie wir leben wollen und was gerade wichtig ist, wird im monatlichen Plenum verhandelt.


Außer den Gründächern konnte ich zunächst wenig Schönes entdecken und kannte zudem niemanden. Mein neues Zuhause schien jedoch eine interessante Biografie zu haben. 1981 hatten hier Hausbesetzer/-innen das verfallene Haus vor dem Abriss gerettet und wieder bewohnbar gemacht. Es gab ab 1980 in Berlin eine ganze Welle an Hausbesetzungen, die die Abkehr von der Flächensanierung hin zur behutsamen Stadterneuerung durch die Unterstützung von Bevölkerung, Institutionen und Behörden markierte. Der „Bauhof“ ist eines der 10 Genossenschaftshäuser unter dem Dach der Luisenstadt eG, das heute noch selbstorganisiert in seinem Hausverein agiert. Ein wichtiger Gegenentwurf zu Denaturierung, dem Ausverkauf unserer Stadt sowie der zunehmenden Vereinzelung ihrer Bewohner/-innen. Seinen Spitznamen verdankt der „Bauhof“ der Lagerung von Baumaterialien der damaligen Hausbesetzer/-innen der Umgebung. Gleichzeitig wurde auch handwerkliches Wissen weitergegeben. Heute erreichen uns Anfragen von Interessierten aus aller Welt mit unterschiedlichem Fokus, z. B. zur Hausbesetzergeschichte, sozial-ökologischer Pionierarbeit oder zur aktuellen Bewirtschaftung.


Mich interessiert hier eine persönliche Perspektive: wie stehe ich mit dem Wohnkollektiv in Wechselwirkung und wie erweitert das Leben in einer Gemeinschaft die eigene und die Perspektiven anderer. Auch wie das Zusammenspiel von individueller und kollektiver Erfahrung zurückwirkt. Es geht darum, wie das Leben in einer Gemeinschaft meine eigene Sichtweise bereichert. Resilienz lässt sich nur in einer Gemeinschaft entwickeln – durch die gelebte Erfahrung, ein „Mensch unter Menschen“ zu sein, wie es Hannah Arendt formulierte. Nur so kann ich mich als ein soziales Wesen begreifen. Diese These ist nicht neu. Aber was bedeutet das? Welchen Effekt hat also eine kollektive Lebensweise, in der ich gezwungen bin, mich aktiv in die Gestaltung meiner Lebenswelt als Teil einer Gemeinschaft einzubringen? Ich übernehme die Verantwortung für mich und meine Handlungen. Immer neue Ziele und Pläne dienen als Anker für eine positive Zukunftsplanung.




Eine Ästhetik der Resilienz ist immer auch eine Ästhetik des Mangels und des Loslassens. Hier, wo improvisiert und repariert, gesammelt und ausgebessert, wiederverwertet und gemeinsam gewerkelt wird, kann man überall Spuren von sich und anderen entdecken.




In den letzten 18 Jahren durchlebte ich im „Bauhof“ einen Prozess der Desillusionierung, Dekonditionierung und Desensibilisierung. Klingt schrecklich, macht aber wunderbar widerstandsfähig. Sich von egoistischen Konzepten zu verabschieden und solidarische Handlungsfähigkeit zu erfahren ist bewusstseinserweiternd und sinnstiftend. Gerade wenn man aus vermeintlich professionellen Gestaltungskontexten kommt. Hier kann sich das Sein mit dem Tun verbinden. Das Leben im Mehrgenerationenhaus hat mich und mein Selbstverständnis als Designerin grundlegend verändert. Design ist für mich hier zu einer prozessorientieren sozialen Praxis geworden, die diejenigen, für die etwas gestaltet wird, im besten Fall co-kreativ miteinbezieht.


Eine Ästhetik der Resilienz ist immer auch eine Ästhetik des Mangels und des Loslassens. Hier, wo improvisiert und repariert, gesammelt und ausgebessert, wiederverwertet und gemeinsam gewerkelt wird, kann man überall Spuren von sich und anderen entdecken. Gestaltungsspuren, die keine Ergebnisse von Heldenreisen sind, sondern auf teils zähen Kompromissen, basisdemokratischen Niederlagen oder mitunter sehr pragmatischen Entscheidungen beruhen. Es reicht nicht, nur gemeinschaftlich nutzbare Möglichkeitsräume in einem Projekt zu haben – ohne ein gemeinwohlorientiertes Bewusstsein in der Bewohnerschaft bleiben sie leer.







Gestaltungszusammenhänge im Kollektiv erfordern einen ständigen Perspektivwechsel. Ich komme hier mit meinen starren Konzepten, Vorstellungen oder gelerntem Wissen schnell an meine Grenzen. Ich habe gelernt: ich brauche die anderen, ihre Erfahrung und Weisheit.


Unser soziales Umfeld begünstigt das Entstehen enger Bindungen, die sich von Freundschaften unterscheiden. Das Interesse an einem schönen Zuhause und Miteinander und die Unterstützung in eigenen Belangen sind ein ständiges Geben und Nehmen. Das gemeinsame Kochen und Essen ist wichtig: wir sitzen alle an einem Tisch und tauschen uns aus. Die monatlichen Hausplena sind alles andere als kuschelige Veranstaltungen. Hier geht es um mögliche Einzüge, Instandhaltungsthemen, Zwischenmenschliches und Prioritäten, die für jeden manchmal schwer nachzuvollziehen sind. Eine solche Akzeptanz zu entwickeln bleibt für mich eine Herausforderung, da ich vorher nur Meetings kannte, in denen Entscheidungen getroffen wurden, die mein Leben nicht unmittelbar betrafen.


Kollektive Erfahrung mitdenken


Eine Architekturpraxis, die die beschriebenen lebenspraktischen Elemente im Fokus hat, hat großes Potenzial. Wenn wir uns an der Gestaltung einer vielleicht neuen Welt beteiligen, reicht es für mich nicht, Tools, Materialien und Technologien auszutauschen, um den komplexen Bedingungen zu begegnen. Es braucht eben diese erweiterte Sichtweise, die ein gründlicheres Verständnis der Auswirkungen meiner Entscheidungen miteinschließt.


Wenn man durch unsere Städte fährt, bemerkt man leider, dass viele bauliche Entscheidungen ohne dieses Bewusstsein getroffen wurden. Es braucht Mut und inklusive Prozesse in allen Gestaltungsdisziplinen. Auch in der Architektur. Heute profitiere ich davon, dass sich junge Menschen in den 80ern gegen die Ideologie der Alternativlosigkeit gestellt, den Status Quo hinterfragt und eine neue Form des Zusammenlebens imaginiert und geschaffen haben.


Gemeinschaftliche Wohnformen wie unsere sind die Blaupause für einen Gesellschaftsentwurf des Überlebens und der Sicherheit in unsicheren Zeiten.


UTA JUGERT

Uta Jugert gestaltet Lernmodelle und Formate, die darauf abzielen, nachhaltige Handlungsstrategien zu entwickeln. Besonders faszinieren sie experimentelle und mediale Formen des autobiografischen Schreibens. Eine ästhetische Praxis, die es ermöglicht, grundlegende menschliche Fragen zu erforschen und Versionen für neue Denk- und Lebensweisen zu entwickeln.

Räume und Sinne



Ein Plädoyer für die Sinne

bottom of page